Sunday, February 17, 2008

Das Wunder von Jucu

Source: WELT Online

Das Wunder von Jucu
(von Carmen-Francesca Banciu)

Nokia und der Kapitalismus bringen Rumänien das, wovon einst Diktator Ceausescu träumte
Jucu in Siebenbürgen ist ein kleiner Fleck auf der Europakarte. So klein, dass man ihn ohne Lupe oder Monokel selbst auf der Karte Rumäniens kaum entdeckt. Jucu liegt 20 Kilometer entfernt von Cluj. Cluj - die Kreishauptstadt -, sagt das britische Magazin "Monocle" voraus, wird zu den fünf Städten der Welt gehören, die 2008 die meisten Schlagzeilen machen werden. Weil sie so nah an Jucu liegt. Das Dorf Jucu de Sus hat eine Hauptstraße und ein paar Nebenstraßen, 581 Häuser, zwei Ärzte, einen Zahnarzt, einen Tierarzt mit einem Assistenten, fünf Schulen und eine Bibliothek mit 10 000 Büchern. Etwa 2,5 Bücher pro Kopf, wie der Bürgermeister witzelt.
Jucu ist ein kleiner Fleck auf der Karte. Aber bald soll es groß werden und eine sichtbare Veränderung auf Rumäniens Landkarte bewirken. Eine Veränderung auf der Karte unseres Kontinents. Denn Jucu gehört zum vereinten Europa. Obwohl Jucu nur knapp über 4000 Einwohner hat, spiegelt es Europa im Kleinformat wider. Wenigstens, was die Konfessionen seiner Bewohner betrifft. In der Dorfgemeinde gibt es 3206 Orthodoxe, elf Angehörige der römisch-katholischen Kirche, 460 Reformierte, 137 Pentikostale, 35 Angehörige der Griechisch-Katholischen Kirche, 24 Baptisten, 15 Adventisten des siebten Tages, einen Unitarier, zwei Evangelikale, einen Christen des alten Ritus, zwei Atheisten, 189 Bewohner, die sich zu anderen Religionen bekennen und eine Person, die sich als religionslos bezeichnet. Außerdem gibt es noch ein paar Einwohner, die sich weigern, über ihre Konfession Auskunft zu geben. Im Vergleich zu den Konfessionen sind die Ethnien weniger vielfältig. Die Rumänen sind in der Mehrzahl, 3524, gefolgt von 516 Ungarn, 43 Roma, einer deutschen Person und zwei Angehörigen anderer Ethnien. Und sie alle scheinen miteinander gut zu Recht zu kommen.
Jucu ist ein kleiner Fleck Europas. Bis vor kurzem war seinen Bewohnern nicht bewusst, dass ihr Dorf so klein und unbedeutend ist. Sie lebten die Idylle des Dorflebens. Sie lebten ihr bescheidenes Leben. Sie konzentrierten sich auf das Überleben: Holzhacken, Feuer machen, Wasser schleppen, Acker bestellen. Keine Kanalisation. Keine Gasleitung. Keine Autobahn. Keine Journalisten.
Bis eines Tages Nokia zu ihnen kam. Jucu sei der Nabel Europas geworden - schreiben manche rumänische Zeitungen halb stolz, halb spöttisch. Jucu macht Schlagzeilen. Das Dorf ist aus seinem Schlaf aufgerüttelt und in Aufruhr. Alles verändert sich. Nichts ist mehr wie es war. Und niemals wird es möglich sein, das, was in diesen Tagen hier passiert, rückgängig zu machen. Mit Nokia wird alles anders. Aus dem im Sommer verstaubten, im Winter eingeschneiten, im Frühling schlammerweichten Dorf mit wenigen Bewohnern, entsteht hier eine moderne Stadt aus der Retorte. Mit Tausenden von Arbeitsplätzen, mit Forschungszentren, Unterhaltungstempeln, Hotels, Restaurants, Wohneinheiten und Kindergärten. Von heut auf morgen entsteht hier ein neues Silicon Valley. Die Industrieparks Tetarom I, II, III und das Nokia Village.
Die Siebenbürger, die fälschlicherweise in Deutschland ausschließlich mit den Sachsen aus Rumänien assoziiert werden, sind ein ruhiger und bedachter Menschenschlag. Eine Initialzündung wirkt bei ihnen spät. Dann aber haben sie einen langen Atem. Als 2005 der schwedische Ikea Zulieferer Ecolor sich als erstes ausländisches Unternehmen nach Jucu wagte und 170 Menschen beschäftigte, verband das Dorf damit keine großen Hoffnungen auf einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Leute blieben weiter Kleinbauern. Für die Taube auf dem Dach wollten sie nicht den Spatz aus der Hand lassen. Und warteten erst einmal ab. Abends tranken sie in der Kneipe doppelt gebrannten Palinka und philosophierten über die Ankömmlinge. Über ihren Wagemut.
So war das immer bei den Rumänen. Immer in Wartestellung. Warten auf ein Wunder. Auf das Ende des Krieges. Auf die Amerikaner. Auf das Ende des Kommunismus. Gleichzeitig bereiteten sie sich vor. Für den Fall der Fälle. Auf die Auswanderung. Auf eine Gelegenheit zur Flucht in den Westen. Auf den Fall der Mauern. Sie warteten. Sie lernten Fremdsprachen und ließen sich ausbilden. Um im richtigen Moment vorbereitet zu sein.
Heute warten die Leute in Jucu nicht mehr. Nachdem die millionenschweren Investitionen in den Standort Jucu - 60 Millionen von Nokia, 30 Millionen von der rumänischen Regierung - bekannt geworden waren, sind 20 moderne Viehzuchtbetriebe entstanden. Denn es wird genug Abnehmer geben. Die ganze Gegend fiebert. Jeder will etwas erreichen. Etwas bewirken. Sogar die Alten sind dabei und wollen mitmischen. Jucu ist in Goldgräberstimmung. Die alten Häuser werden renoviert. Neue Häuser gebaut. Die Preise für Grund und Boden explodieren. Die Leute glauben an die Zukunft ihrer Unternehmungen. Die Lust am Geschäftemachen ist ansteckend. Auch Cluj wird wachsen.
Wie man schätzt, wird die Stadt bis 2012 auf eine Million Einwohner wachsen und zur Hightech Hauptstadt Rumäniens werden. Mit Top Kräften von der eigenen Universität. Die Babes-Bolyai Universität wird erweitert und modernisiert. Sie plant neue Fachbereiche. Die in Cluj vorhandenen Kräfte reichen schon längst nicht mehr aus. Der Standort hat Zulauf aus allen Ecken des Landes. Und aus dem Ausland.
Seitdem der Bösewicht Funar, früherer Bürgermeister von Cluj, der die Rumänen gegen die Ungarn aufhetzte, von der politischen Bühne verschwunden ist, hat sich die aufrührerische Stimmung in der Gegend gelegt. Das sorgt für Stabilität und gibt Vertrauen. Die ganze Region Cluj boomt. Energien fließen. Energien ziehen Energien an. Denn jeder will dort sein, wo Geld und Energien in Bewegung sind. Nokia wird hier seine Mobiltelefone für Europa, den Mittleren Osten und Afrika produzieren. Seine Zulieferer wollen auch kommen und hier investieren. Es gibt viel zu tun und viel zu verdienen in der Gegend.
Vor allem gibt es viel zu tun für viel Enthusiasmus, gegen wenig Bezahlung. Aus allen Ecken Europas werden Arbeiter angeheuert. Aus aller Welt. Aus der Türkei, aus China, aus Indien. Es gibt viel zu tun in Jucu, bis aus weiten Feldern ein ultramoderner Industriepark entstanden sein wird. Und viele wollen dabei sein. Auch deutsche Firmen.
Goldbeck hat für Nokia die Fabrikhallen gebaut. Andere werden folgen. Man geht davon aus, dass die Billiglöhne in Rumänien noch eine Weile halten. Die rumänischen Zeitungen behaupten, Kolbenschmidt wolle hier Motorblocks für Porsche, Jaguar und Mercedes bauen. Bechtel die Autobahn. Daimler will sich zwischen Rumänien und Polen entscheiden. Der finnische Verlag Hansaprint hat sich angekündigt und BYD aus China.
Trotz Geheimhaltung oder widersprüchlicher Informationen aus Jucu, eins ist sicher: Die Einstellung der Arbeitskräfte hat begonnen. Die Bezahlung liegt unter dem rumänischen Durchschnittslohn. Die Arbeitskräfte aus der Gegend reichen nicht aus. Viele Bewerber kommen von weit her. Eins ist sicher: Die Werkshallen von Nokia stehen. Ein Wohnpark wird gebaut. Noch im Februar sollen die ersten Mobiltelefone produziert werden. Inzwischen traut man sich auch andernorts in Rumänien, an den Aufschwung zu glauben. Die Rumänen lernen schnell. Und aus den Ereignissen in Bochum haben sie gelernt: Nokia wird so lange bleiben, bis sich die Gehälter in Rumänien dem Westen angeglichen haben. Ausländische Investoren werden kommen und gehen. Was sie hier aufbauen, wird bleiben.
Wie der Bürgermeister von Jucu sagt: Die Schienen zwischen Jucu und Cluj, die Autobahn, die Kanalisation, die Gasleitungen, die Wohnhäuser, die Kindergärten werden sie zurücklassen. Die ganze Infrastruktur wird bleiben. Und damit können wir weitermachen. Was immer passieren wird, eins ist sicher: Die Hochindustrialisierung Rumäniens hat begonnen. Wenn das keine Ironie der Geschichte ist: Der Turbokapitalismus und die ausländischen Investoren erfüllen den Traum von Ceausescu.